Im November sage ich dem besten Mann von allen, dass ich nun ein paar Jahre nicht mehr fliegen will. Diese engen Sitze. Ich habe das satt. In den Weihnachtsferien will ich nach Österreich!
Er reißt die Augen auf. „Nach Österreich? Was sollen wir da? Die Berge sind zu steil, das Kauderwelsch verstehen wir nicht und ich.. ich kenne keine Österreicher. Die sind sicher komisch.“
„Vorurteile hast du aber keine?“, frage ich und streichele seinen Arm. Ich weiß ja, dass er mitkommen wird. Er lässt mich immer „Erste Bestimmerin“ sein und heimlich teile ich seine Bedenken, zumindest die über die Berge. Aber ich freue mich schon. Wir fahren zum Erlaufsee, im GEO-Magazin als eine der letzten Ruhe-Oasen gepriesen. Die Fahrt wird mindestens acht Stunden dauern. Wir werden streiten, wer fahren darf und er wird Gott sei Dank gewinnen. Acht Stunden werde ich neben meinem wundersamen Mann sitzen, der mich mit Altherrenwitzen über Österreich ärgern wird, bis ich einen hysterischen Anfall vortäusche, dann wird Ruhe sein.
Am 23. Dezember starten wir. In Köln – Süd schlafe ich schon und ich kurz vor Montabaur aufwache, hört der beste Mann von allen 80er-Jahre-Songs und zieht die Mundwinkel nach unten. „Was?“ frage ich. „Seit Köln-Süd fährt jetzt dieser Österreicher vor mir her“, sagt er, „so ein Knabe mit so einer albernen Kappe. Der sieht aus wie eine Karikatur von Deix. Der regt mich auf! Wie der fährt! Und so was hat ´nen Ford-Mustang!“ Als er den Wagen überholt, schiele ich nach rechts.
Der fährt wirklich komisch! Das Auto schlingert immer wieder hin und her. Vielleicht hat er was getrunken? Er trägt eine schwarze Kappe, auf der „Digga“ steht. Ich gucke nach links: Der beste Ehemann von allen ist jetzt im Murmelmodus: Wie er wohl auf diese Berge kommen soll? Was das eigentlich für eine Idee sei! Warum wir nicht nach Langeoog gefahren sind? Die Möwen, der Strand! Ich verstehe nicht alles und schlafe wieder ein.
Als wir an der nächsten Raststätte halten, parkt der Mustang neben uns. Der Fahrersitz ist leer, aber die Beifahrertür ist eine Handbreit geöffnet. Komisch. „Guck mal, da sitzt noch einer drin“, sagt mein Mann plötzlich und lugt auf die Rückbank. „Is´ klar! Folie auf der Heckscheibe und an den Seitenfenstern“, sagt er enttäuscht, denn er kann nichts im Inneren des Wagens erkennen, „passt ja ins Bild“.
Auf dem Weg zum Restaurant stößt der beste Mann mich mit dem Ellbogen in die Seite. Vor uns schlurft der Österreicher. Er ist um die fünfzig und trägt außer der Kappe dunkelgrüne Ökostiefel, ein lila-weiß gestreiftes Polohemd, das über dem Bauch spannt und eine Goldkette mit einem Ankeranhänger, der meinem Mann ein verächtliches Schnauben entlockt.
Fünf Minuten später reihen wir uns in der Schlange vor den Hamburgern ein. Der Österreicher steht vor uns und kratzt sich mit dem linken Fuß an der rechten Wade. Sein Doppelkinn wogt hin und her, seine fettigen Haare sind im Elvis-Look nach hinten gegelt. Die Kappe sitzt schief auf seinem Kopf. Er bestellt drei Hamburger und zwei Cola und verlässt die Raststätte mit dem vollen Tablett. Die Augenbraue meines Gatten schießt nach oben. Von Tablettklauern hält er nicht viel und außerdem ist er gerade auf Diät. Wir kaufen uns zwei Erdbeerflips und gehen zurück zum Wagen. Vom Österreicher keine Spur, allerdings sind jetzt beide Türen des Mustangs weit geöffnet.
„Komm, wir setzen uns ins Auto“, sagt mein Mann. Dort stellt er seinen Erdbeerflip in die Ablage und starrt durch die Windschutzscheibe nach rechts.
Dort sitzt der Österreicher unter einem Haselnussstrauch. Auf dem Schoß hat er einen etwa sechsjährigen Jungen. Beine und Arme des Kindes stehen wie kleine abgenagte Hühnchenknochen von dem weißen mageren Körper ab, der in der Mitte zusammengeknickt ist. Das Kind wirft seinen verformten Kopf hin und her. Die Spastiken schütteln seinen kleinen Leib und sein spitzer Vogelmund schnappt nach Luft. Ganz langsam reißt der Österreicher kleine Stücke des Hamburgers ab und füttert den Jungen damit. Der Junge spuckt die Stücke wieder aus. Der Mann streichelt dem Jungen mit den Fingerspitzen übers Gesicht und der Junge schluckt endlich. Dann beginnt die Prozedur von vorne. Plötzlich klingelt ein Handy. Der Mann versucht, das Gerät aus seiner Hosentasche zu ziehen, aber der Junge liegt zu schwer auf seinen Beinen.
„Komm mit!“, flüstert mein Mann. Er steigt aus und geht auf Vater und Sohn zu. Er schaut den Österreicher kurz an, nickt, nimmt dem Mann das Kind aus den Armen und hebt es hoch. Der Junge atmet schwer und zuckt, aber mein Mann hält ihn ganz sachte und spricht leise auf ihn ein. Der Niederösterreicher holt sein Handy aus der Tasche und spricht ein paar Sätze in einem fremden Dialekt. Dann drückt er es aus, steckt es in die Tasche, steht auf und nimmt das Kind wieder in Empfang. Die beiden Männer taxieren sich.
„Der Depperte mit dem Diesel!“, sagt der Mann und lächelt schief, „host mi doch noch eingekriegt? Aber am Berg häng I di wieder ab! Warm für Dezember“. Er lächelt, aber das Lächeln reicht nicht in seine Augen hinein. Steingraue Schatten unter sehr blauen Augen, Bartstoppeln, ungewaschene Haut.
„Kann er Erdbeerflip trinken?“ fragt mein Mann.
„Naa, eher ned,“ sagt der Vater und wischt sich Hamburgerkrümel von der Oberlippe.
„Müsst ihr noch weit?“ fragt er dann.
„Erlaufsee, ist noch ein Stück.“
„Schön! Erlaufsee. War ich auf Hochzeitsreise. Lang her. Ist jetzt weg, die Frau. Komm grad von meiner Mutter, die wohnt in Köln. Aber die wird auch nicht damit fertig. 87. Jetzt bring ich ihn nach wieder zu uns nach Wien, ins Heim. Seit der Bub weiß, wo´s wieder hingeht, will er nicht essen! Aber Mustang fahren, des mog er.“ Er hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen.
„Ihr müsst weiter!“, stellt er dann fest. „Erlaufsee. So schön im Winter.“
„Ich hab´ noch Zeit. Und ich geb´ dir nachher Vorsprung“, lächelt mein Mann. Er setzt sich neben den Mann auf die Bank und faltet die Hände hinter dem Kopf. Ich setze mich auf die andere Seite des Mannes. Wir beobachten die lange Reihe LKWs, die am Rand der Raststätte stehen. Die LKW Fahrer stehen eng zusammen und rauchen.
„Scheiß-Job“, sagt der Österreicher leise. „Stimmt!“, sagt mein Mann. Wir sitzen und schauen. Die Autobahn rauscht. Über uns, zwischen den abgestorbenen Blättern des Haselnussstrauches krabbeln kleine Spinnen. Der Himmel ist so blau, dass er uns blendet. Mein Mann nimmt meine Hand, die hinter dem Vater auf der Lehne liegt. Wir atmen. Und schauen. Dann fängt der Junge an zu zucken, er greift nach dem Gesicht seines Vaters.
„Okay, ich fahr los!“, sagt der. Gemeinsam setzen beide Männer das Kind auf den Rücksitz und schnallen es fest. Bevor der Mann losfährt, kurbelt er das Fenster runter.
„Das wird eine Gaudi. Du kriegst mi ned!“, sagt er und setzt die Kappe wieder auf.
Wir gleiten mühelos auf der Autobahn dahin, schweigend. Nach zehn Minuten überholen wir den Mustang, der Vater winkt. Bis Würzburg geht das so: überholen, winken, überholen, dann verschwindet der Mustang für immer.
„Ich freue mich auf den See“, sagt der der beste Mann von allen, als in der Ferne die ersten Berge auftauchen, „Ich freue mich auf alles. Und die Berge: Das schaffen wir.“